Filmästhetik und Kindheit

Der Blick des Kindes auf die Leinwand und die Welt

Der Geist des Bienenstocks / El espíritu de la colmena

Bettina Henzler

17. Januar 2018

Filmanalysen

Titelbild

Ein kleines Mädchen sieht im Wanderkino den Horrorfilm Frankenstein (R: James Whale, USA 1931) und wird von diesem Kinoerlebnis so beeindruckt, dass sie beginnt, das Monster in der Realität – einem kastilischen Dorf der 1940er Jahre, zum Ende des spanischen Bürgerkriegs – zu suchen.

Das ist die Geschichte, von Der Geist des Bienenstocks (El espíritu de la colmena, R: Víctor Erice, Spanien), der 1973, in der Spätzeit des Franco-Regimes, entstanden ist. Er gehört zu einer Reihe von spanischen Filmen – wie auch Carlos Sauras Züchte Raben (Cría Cuervos, Spanien 1976) –, die über die Figur eines Kindes die traumatische Vergangenheit des Krieges und der Diktatur bearbeiten.1 Der Geist des Bienenstocks ist aber auch ein herausragendes Beispiel für die Filme der europäischen Moderne, die Kinder als Kinogänger zeigen, um die Wirkung des Mediums auf die Zuschauer*innen und die Rolle des Kinos in der Kindheit zu veranschaulichen. In Filmen wie Sie küssten und sie schlugen ihn (Les quatre cents coups, R: François Truffaut, Frankreich 1959), Jacquot de Nantes (R: Agnès Varda, Frankreich 1990) oder Im Lauf der Zeit (R: Wim Wenders, BRD 1976) ist der Kinobesuch nur eine in sich geschlossene Episode. In Der Geist des Bienenstocks wird er dagegen zum Ausgangspunkt der Handlung und einer Reflexion des Zusammenhangs von Kino, Wahrnehmung und Bildung.

Der Blick eines Kindes auf die Leinwand und die Welt ist in diesem Film auf mehreren Ebenen gegenwärtig. Als Initiationsgeschichte handelt Der Geist des Bienenstocks davon, wie eine angsteinflößende Filmerfahrung verarbeitet wird und wie diese den Blick auf die Welt verändert. Die Begegnung mit dem Unheimlichen findet jedoch nicht nur auf Ebene der Handlung statt, sie prägt die Ästhetik des Films, dessen Realismus durch Horrorelemente unterwandert wird: Wie das Kind wird der Film selbst von Frankensteins Monster heimgesucht. Wie das Kind erfahren die Zuschauer*innen die filmische Welt als unheimlich. Schließlich kann der Film auch als Ausdruck von Kindheitserinnerungen verstanden werden, von der Erinnerung an prägende Kinoerfahrungen einer Kindheit im Franco-Regime, wo das klassische Hollywoodkino ein Fenster zur Welt bot. In der deutsch- und englischsprachigen Sekundärliteratur wurde Der Geist des Bienenstocks vor allem in Bezug zu diesem historischen Kontext thematisiert, hier soll hingegen die Analyse des kindlichen Blicks und der Kinoerfahrung im Vordergrund stehen. Es geht um die Frage, was dieser Film vom Kino und von der Kindheit vermittelt.

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