Filmästhetik und Kindheit

Wer sieht was wo?

TEN MINUTES OLDER / СТАРШЕ НА ДЕСЯТЬ МИНУТ

Stefan Huber

06. Mai 2018

für Kinder

Titelbild

Ten minutes older (Старше на десять минут, R: Herz Frank, Lettland 1978) ist einer der bekanntesten Filme einer Erneuerungsbewegung im lettischen Dokumentarfilm der 1960er Jahre. Als Teil der Sowjetunion war auch in Lettland nach dem Zweiten Weltkrieg Filmproduktion abseits der herrschenden Doktrin des Sozial-Realismus kaum möglich. Erst die sogenannte „Tauwetter“-Periode ermöglichte andere Formen. Es etablierte sich die „Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms“, deren Vertreter*innen sehr formbewusste und gleichzeitig sehr persönliche Filme machen wollten.1 Herz Frank war Teil dieser Bewegung, sein Interesse lag in der Erforschung poetischer wie mystischer Möglichkeiten des Dokumentarischen: „[D]ie Realität hat ihren eigenen künstlerischen Wert. […] Ganz oft geht es um eine gedankliche Entwicklung, um einen realen Traum vielleicht.“2

In den titelgebenden zehn Minuten seiner Dauer zeigt Ten minutes older wie Kinder in einem dunklen Raum gebannt einer Aufführung folgen, die sich jenseits des Bildausschnittes abspielt. Auf Schnitte wird in diesem Film verzichtet. Was die Kinder beobachten, erfahren wir nicht. Wir haben lediglich Indizien, die uns spekulieren lassen, was sie sehen und hören: Da wären zuerst die Gesichter der Kinder, in denen eine Fülle von emotionalen Reaktionen zu erkennen ist. Die Kamera zeigt uns mehrerer Kinder, konzentriert sich aber die meiste Zeit über auf das Gesicht eines zirka 3- bis 4-jährigen Jungen3 mit expressiver, ständig wechselnder Mimik. Ein zweiter Hinweis auf das Nicht-Sichtbare, das Off, ist der Ton, der kein Originalton der Aufführung, sondern eine Nachvertonung ist. Schlussendlich wäre da noch das Wenige, das wir vom Raum der Aufführung sehen. In dieser minimalistischen filmischen Anordnung lässt sich viel über die Aktivität eines jeden (insbesondere eines kindlichen) Publikums, über den Aufführungsraum im Allgemeinen (und den Kinoraum im Speziellen), über Macht und Manipulation einer Inszenierung, über das Off, über die Bedeutung des Tons und – vielleicht am allerwichtigsten – über die eigene Situation als Zuschauer*in im Kino nachdenken und diskutieren. Die formale Einfachheit des Films erlaubt es, sich konzentriert diesen Aspekten zu widmen.

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