Filmästhetik und Kindheit

Der filmische Schaffensprozess und das Spiel in der Kindheit

Pierrot le fou

Alain Bergala

Positionen

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Nicht jeder Film mit Kindern handelt auch von Kindheit. Den Anteil von Kindheit in Filmen kann man in drei Kategorien unterteilen:
Am offensichtlichsten sind erstens Filme mit Kinderfiguren, in denen es auch um Kindheit geht: Dazu gehören LES 400 COUPS (Sie küssten und sie schlugen ihn; 1959) von François Truffaut, EL ESPÍRITU DE LA COLMENA (Der Geist des Bienenstocks; 1973) von Victor Erice, die ersten Filme von Abbas Kiarostami, PONETTE (1996) von Jacques Doillon, A PERFECT WORLD (1993) von Clint Eastwood und alle Filme, deren Kinderfiguren Kindheit, das heißt die Fähigkeit zu spielen, verkörpern.

Es gibt aber auch Filme, in denen die Kinderfiguren »falsche« Kinder sind, nichts weiter als Projektionen von Erwachsenen oder Marionetten des Drehbuchs, Kinder, die keine echte Kindheit in sich tragen. Oft werden diese Kinder von kleinen »professionellen« Schauspieler*innen in der Art dressierter Hunde gespielt. Die zweite Kategorie umfasst Filme mit Kinderfiguren, denen eine echte Kindheit verwehrt ist, die das Leben um den Status der Kindheit beraubt hat. Es handelt sich um Filme mit Kindern, die von klein auf in eine Welt geworfen wurden, die ihnen keinen Raum mehr für Spiele lässt: GERMANIA ANNO ZERO (Deutschland im Jahre Null; 1948) von Roberto Rossellini repräsentiert diese Kategorie am besten. Die Realität (des Krieges, der Verantwortung für die Familie, der Krankheit seines Vaters) hat in Edmund (Edmund Meschke) alle Fähigkeit zum Spielen und damit auch die Fähigkeit, zu leben, abgetötet. Kurz vor seinem Gang in den Tod wird Edmund von kleineren Kindern zurückgewiesen, die in den Ruinen Ball spielen und ihn nicht in ihre kleine Gemeinschaft aufnehmen. Diese Unmöglichkeit des Spielens wird Edmund in den Selbstmord treiben. In MOUCHETTE (1967) von Robert Bresson wird die Titelfigur (Nadine Nortier) von der Gemeinschaft der gleichaltrigen Mädchen ihres Dorfes ausgestoßen und ihr einsames Spiel, das Herunterrollen eines Abhangs am Teichufer, mündet ebenfalls in Selbstmord. Im Laufe des Films wurde sie mit dem Bösen, dem Tod und sexueller Gewalt konfrontiert, was sie aus jeglicher Kindheit ausschließt. Nur einmal hat sie gespielt, beim Autoskooter, und sich damit die öffentliche Ohrfeige ihres Vaters eingehandelt. Und der kleine Junge (Billy Chapin) in THE NIGHT OF THE HUNTER (Die Nacht des Jägers; 1955; R: Charles Laughton) ist durch ein Geheimnis und die Verantwortung für seine kleine Schwester in solchem Maße gebunden, dass er im Gegensatz zu ihr nicht mehr am Spielen interessiert ist.

Die dritte Kategorie – diejenige, die uns hier interessieren wird – sind Filme ohne Kinder, in denen aber Kindheit vorkommt. Und zwar auf zwei Ebenen: Die erwachsenen Figuren finden in der Handlung ihre kindliche Fähigkeit zum Spielen wieder. Und der Regisseur, die Regisseurin klammert zumindest zeitweise die produktivistische Logik des Drehbuchs aus und fängt ebenso wie die Figuren an, frei Kino zu spielen, ohne sich um den narrativen Nutzen zu kümmern. Die Fähigkeit zum Spielen zeichnet in solchen Filmen daher sowohl die Filmemacher*in als auch die Figur(en) aus. Wir werden uns hier speziell mit Jean-Luc Godards PIERROT LE FOU (Elf Uhr nachts; 1965) beschäftigen, hätten dieser Frage aber genauso gut an BADLANDS (Zerschossene Träume; 1973) von Terrence Malick, VIVEMENT DIMANCHE! (Auf Liebe und Tod; 1982) von Truffaut, DU CÔTÉ D’OROUËT (1971) von Jacques Rozier oder L’AMOUR FOU (Amour fou; 1969) von Jacques Rivette nachgehen können.

Dieser Artikel erschien 2017 in dem Sammelband Kino und Kindheit.

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