Filmästhetik und Kindheit

Sich vom Ballon wegtragen lassen

Der Rote Ballon / Le ballon rouge Die Reise des Roten Ballons / Le voyage du ballon rouge

Bettina Henzler

17. Januar 2018

Filmanalysen

Titelbild

der rote ballon (le ballon rouge, R: Albert Lamorisse, Frankreich 1956) ist einer der berühmtesten Kindheitsfilme des französischen Kinos. Er wurde mit unzähligen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit der Goldenen Palme für den besten Kurzfilm in Cannes. Jahrzehntelang lief er als 16mm-Kopie in nicht kommerziellen Aufführungen in Schulen und Filmclubs und prägte die ersten Filmerfahrungen vieler Kinder.1 Der Film gewinnt seinen Reiz für Kinder und Erwachsene aus seiner vordergründigen Einfachheit, die zu verschiedenen Deutungen und Rezeptionsweisen einlädt. der rote ballon erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen (gespielt von Pascal Lamorisse, dem Sohn des Regisseurs), der sich mit einem roten Luftballon ‚anfreundet’. Er läuft mit ihm durch die Straßen von Paris, schützt ihn vor den Erwachsenen, die ihn aus öffentlichen Räumen (Bus, Schule, Kirche) ausgrenzen, und vor den anderen Kindern, die ihn schließlich zerstören.

Kindheit wird in der rote ballon als eine Zeit vorgeführt, in der Objekte durch Fantasie zum Leben erweckt werden können und wo strenge Regeln, Verbote und Missgunst die Freiheit der Fantasie bedrohen. Der Film ist auch ein Kommentar zum Frankreich der Nachkriegszeit, das als eine graue, reglementierte Welt inszeniert wird, in der Institutionen und Erwachsene autoritär oder ignorant mit dem Jungen umgehen und auch die Spiele der anderen Kinder von Konkurrenz und Gewalt (der Logik des Krieges?) beherrscht sind. Man mag den Ballon als Symbol für Freiheit, Fantasie, Transzendenz oder anderes deuten – ich möchte hier stattdessen den Aspekt der Ästhetik ins Spiel bringen.2 Denn mit dem Ballon, seiner Form, Farbe und Bewegung wird eine andere Dimension in der Welt der Handlung sichtbar. Diese verweist auf die Eigenschaften des Film, denn Film ist ein Medium, das Objekte in Bewegung versetzen und das bewegte Formen zur Anschauung bringen kann.

Der taiwanesische Regisseur Hou Hsiao-hsien hat 50 Jahre später mit seinem vom Musée d'Orsay (Paris) in Auftrag gegebenen Film die reise des roten ballons (le voyage du ballon rouge, Frankreich 2008) auf der rote ballon geantwortet. die reise des roten ballons zeigt uns den Alltag eines Kindes im zeitgenössischen Paris, umgeben von Kunst und Medien, wo ein Luftballon nur eine Ablenkung unter vielen ist. In diesem Film ist es nicht das Kind, das dem Ballon folgt, sondern die Kamera, die seine schwebenden Bewegungen aufgreift. Damit thematisiert die reise des roten ballons explizit, was in der rote ballon nur indirekt verhandelt wird: die Eigenschaften, Gestaltungs- und Rezeptionsformen des Mediums Film.

Im Vergleich der beiden Filme werde ich im Folgenden den Zusammenhang von Kindheit, Bewegung und Ästhetik aufzeigen. Denn der rote ballon zählt zu einer Reihe von Filmen der 1950er und 1960er Jahre, die Kinder in Bewegung zeigen, und mit der (gefilmten) Lust an der Bewegung auch die Lust am Film(en) vermitteln.

Siehe auch die Analyse der Museumssequenz von die reise des roten ballons in Hinblick auf die Reflexion von Kindheit, Medialität und Bildung in Die Mise en scène der Vermittlung.

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