Fragen Spielen Träumen
23. Februar 2018
PEPPERMINT FRIEDEN (R: Marianne Rosenbaum, BRD 1983) ist wohl der radikalste Versuch im deutschen Kino, die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen: NS-Zeit, Bombenkrieg, Besatzung und kalter Krieg erscheinen im Zerrspiegel kindlicher Erinnerungen, Spiele und Träume. Schwarzweiße Szenen wechseln mit knallbunten Pop-Traumsequenzen, reale Ereignisse überlagern sich mit Motiven aus Märchen, Religion und Romantik. PEPPERMINT FRIEDEN erzählt von den Auswirkungen der Kriegserfahrung auf die Psyche des Kindes, und wirft einen unverblümten Blick auf die Nachkriegszeit, in der die Erwachsenen die Schrecken der Vergangenheit verdrängen und sich mit der Atombombe bereits neue Katastrophen ankündigen.
Gemeinsam mit den bekannteren DIE BLEICHTROMMEL (R: Volker Schlöndorff, Deutschland/Frankreich 1979) und Deutschland, bleiche Mutter (R: Helma Sanders-Brahms, BRD 1980) gehört PEPPERMINT FRIEDEN zu den Filmen in Postdiktatur-Ländern, in denen die Traumata der Vergangenheit über Kinderfiguren vermittelt werden, da diese es erlauben, die Geschichte ‚anders’ zu erzählen als es in der offiziellen Geschichtsschreibung oder etablierten Formen filmischen Erzählens üblich ist, und anzusprechen, was gesellschaftlich tabuisiert wird.1 Inga Scharf hat darauf verwiesen, dass im Neuen deutschen Film meist die Täter oder Opfer, oder aber die ‚normalen Leute’ – wie in Reitz’ Heimat-Serie (BRD 1984) – im Fokus stehen, um sich mit repräsentativen Positionen in der Geschichte auseinanderzusetzen. Kinderfiguren haben dagegen eine Zwischenposition inne, sie sind zugleich mitten drin und stehen doch am Rande, nehmen am Geschehen teil, sind aber nicht dafür verantwortlich, sie bezeugen, was sie nicht unbedingt verstehen.
Ich möchte im Folgenden anhand von PEPPERMINT FRIEDEN zeigen, wie die Figur des Kindes in manchen Filmen nicht nur zur ‚Dezentrierung’ der Erzählung beiträgt, sondern auch Anlass für eine radikal andere Form der Darstellung von Geschichte ist, die gewissermaßen gefiltert durch die Phantasie des Kindes erscheint. Oder anders gesagt: hier wird die Psyche des Kindes zum Schauplatz der Geschichte.
Siehe auch Shifting perspectives: the child as mediator in New German Cinema, der in Screen 59:2/2018 erschienen ist.
Spielen
In PEPPERMINT FRIEDEN gibt es keine Erzählstimme (voice-over), die das Geschehen (rückblickend) ordnet, die eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart herstellt. Das emotionale und narrative Zentrum der einzelnen Episoden ist vielmehr die vierjährige Hauptfigur Marianne, die ihre Fragen entweder an andere Figuren richtet oder sich direkt zur Kamera, und damit an die Zuschauer wendet. Die Montage und die Mise-en-Scène funktionieren wie ein Kommentar, indem sie die Denkweise des Kindes, ihre Wahrnehmung und Imagination aufgreifen oder nachbilden.2 Der fragmentarische und imaginäre Charakter von Kindheitserinnerungen entsteht durch eine episodische Struktur, das Wechseln von schwarz-weißen Erinnerungsszenen und farbige Traumszenen, den Einsatz von verzerrten Perspektiven und die Durchdringung der Handlung mit religiösen und märchenhaften Motiven. Trotz des weitgehend chronologischen Ablaufs vom Krieg bis hin zur Nachkriegszeit (Holocaust, Bombenangriffe, Umsiedlung, Amerikanische Besetzung und der Kalte Krieg), wird eine Kausalität der Handlung eher suggeriert als erzählt und im Verlauf des Films mehr und mehr durch ein Netz von Motiven ersetzt, das wiederholt, variiert und immer wieder neu kombiniert wird. So schildert der Film, wie Marianne in ihrem Spiel, ihrer Imagination und ihren Träumen das Erlebte verarbeitet und sich dabei den Geheimnissen, Widersprüchen und Ideologien der Nachkriegsgesellschaft annähert.
Schon in der ersten Einstellung vor dem Vorspann werden diese formalen Strategien des Films mit dem Spiel der Kinder in Verbindung gebracht. Wir sehen drei halbnackte Kinder unter einem Klavier sitzen, ihre Gesichter in Gasmasken, die Elefantenrüsseln gleichen. Sie flüstern Unverständliches und bewegen die Schläuche der Masken zu den elegischen Klängen eines Zarah-Leander-Liedes Der Wind hat mir ein Lied erzählt. In den nächsten Einstellungen sehen wir einen Jungen mit nacktem Oberkörper, der Klavier spielt, und zwei Mädchen, eine davon in Frauenunterwäsche, die das Lied falsch mitsingen und mit übertriebenen Gesten die darin artikulierte Liebessehnsucht nachahmen.
Das Spielzeug der Gasmasken und das Medium des Schlagers verweisen auf den historischen und kulturellen Hintergrund der NS – Zeit und des Krieges. Im Spiel verwandeln die Kinder diese Dinge, ebenso wie sich selbst und den Raum in eine Bühne, auf der die Intimität der Kinder vom Überlieferten, von der Geschichte durchdrungen ist. Sie verknüpfen, was nicht zusammenzugehören scheint: das Liebeslied, Sexualität, Krieg, und was doch ‚Sinn ergibt’, oder den Zuschauer zumindest dazu auffordert, über die Widersprüche von Ideologie und Realität nachzudenken (das Lied ist Teil der NS-Filmproduktion, Zarah Leander ein Star des UFA-Kinos der NS-Zeit, die mit ihren Liebesgeschichten von der Kriegsrealität abzulenken versuchte und das Durchhaltevermögen der Deutschen steigern sollte). Die nackten Kinder mit Gasmasken sind zudem ein starkes Bild für die Prägung der Körper durch Kriegserfahrungen – auch bei den Nachgeborenen. Und zugleich wird dieses Bild durch Kinderdarsteller auch unterlaufen: wenn sie schief singen und ihrer Sinnlichkeit eigenwillig Ausdruck verleihen, wenn sie ‚unpassend’ mit den Dingen der Vergangenheit umgehen und kulturelle Formen auf ihre Weise nachahmen und verfremden. Diese erste Szene führt damit im Spiel der Kinder das ästhetische Konzept des Films vor, der dieser Logik der falschen Nachahmung, Verwandlung und Neukombination von Elementen der Realität, seien es Landschaften, Situationen, kulturelle Motive, in seiner Mise en scène und Montage folgen wird.3
Sehen
Der begrenzten Perspektive des Kindes entsprechend, vermeidet der Film weitgehend weite Einstellungen, in denen ein Überblick über die Landschaft gegeben wird. Stattdessen lassen Nahaufnahmen, die das Spielen von Marianne und ihre Interaktionen mit anderen zeigen, die Zuschauer*innen direkt in Situationen eintauchen. Dennoch gibt es zwei signifikante Landschaftsaufnahmen, die im Film mehrfach wiederkehren: eine Backsteinfabrik in einer Schneelandschaft während des Krieges und ein Seeufer im Sommer nach dem Krieg. Die Schneelandschaft reiht sich in eine Serie von Momentaufnahmen zu Beginn des Films ein, die an den Holocaust erinnern: Sie deuten die Freundschaft zwischen Marianne und dem jüdischen Dr. Klug und dessen Verschwinden an und zeigen die ‘Konfrontation’ des Kindes mit dem nahe gelegenen Konzentrationslager Theresienstadt. Anstatt das Lager oder seine Gefangenen jedoch direkt zu zeigen, spielen die Szenen darauf an, was die Kinder vom Holocaust wissen oder auch nicht. In einer Szene sehen wir Mutter und Kind vor einer Schaufensterscheibe stehen, in der sich ein Zug von Gefangenen spiegelt, der hinter den Frauen vorbeigeht. Die Mutter wendet Mariannes Kopf in Richtung des Schaufensters und hält ihr, als diese sich zu den Gefangenen umdrehen will, die Augen zu.
Die folgende Szene zeigt Marianne und einen Jungen in einer Schneelandschaft, die zunächst auf zwei Frauen schauen, welche sich flüsternd über ‘den Rauch über Theresienstadt’ unterhalten, und danach auf die rauchenden Schornsteine der Backsteinfabrik.
Die Szenen verweisen auf den historischen Kontext des Holocaust und verdeutlichen, dass die Kinder darüber nichts wissen sollen, auch wenn sie ahnen, dass sich die Erwachsenen über ein furchterregendes Geheimnis unterhalten.
Auf Handlungsebene wird hier somit erzählt, was Kinder nicht sehen oder hören dürfen. Auf formaler Ebene wird jedoch die Perspektive des Kindes und seine emotionale Reaktion auf das Verhalten der Erwachsenen vermittelt. Wenn in der ersten Einstellung der Schneelandschaft die beiden Frauen über Theresienstadt sprechen, zieht die Kamera sich unvermittelt, in einer schlenkernden Bewegung von ihnen zurück. Erst mit dem folgenden Blickanschluss, wenn die Gesichter der beiden Kinder zu sehen sind, verstehen wir, dass es sich dabei um ihre Perspektive handelte, um den Blick von einem fahrenden Schlitten. Diese ‚Schlittenfahrt’ der Kamera erzeugt und verbildlicht eine Distanz zwischen den Erwachsenen und den Kindern, eine Distanz, die durch die Mutter verursacht wird, die den Schlitten der Kinder wegstößt. Sie scheint damit die ablehnende Haltung der Erwachsenen auszudrücken, die ihr Wissen über die Naziverbrechen nicht an die Nachkommen weitergeben wollen. Im Weitwinkel aufgenommen hat die lange, subjektive Schlitten-Kamerafahrt noch einen weiteren Effekt: sie verzerrt unsere Wahrnehmung der schneebedeckten Landschaft. Dadurch, dass wir den Schlitten nie sehen, entsteht ein Unbehagen, ein Kontrollverlust. Das auf Tonebene zu hörende Krächzen von Krähen verstärkt die seltsam irreale, unheimliche Stimmung. Die beiden Frauen, die sich als schwarze Umrisse in einer weiten Landschaft entfernen, erinnern an alte Frauen in Märchen, Erzählerinnen oder Hexen, Hüterinnen gefährlicher Geheimnisse. In die scheinbar leere und ‘unschuldige’ Landschaft, ein Spielplatz für Kinder, wird so eine zweifache Bedeutung eingeschrieben: sie bedeckt die Gewaltverbrechen der deutschen Geschichte (welche die Erwachsenen verheimlichen) und verwandelt sich in eine imaginäre Landschaft des Kindes, das versucht, die ‚Lücken‘ sinnvoll zu füllen und genau die Fragen stellt, welche die Erwachsenen meiden.
Träumen
Die dreifache Dimension der Landschaft: als Ort des alltäglichen Lebens, als Ort historischer Ereignisse und als Ort der kindlichen Imagination, wird noch weiter aufgefächert, wenn in den Nachkriegsszenen auch die Zukunft ins Spiel kommt. Wiederholt ist ein Seeufer in der Nähe des bayerischen Dorfes zu sehen, in dem die Familie nach dem Krieg wohnt, eine Landschaft, die an Gemälde der deutschen Romantik erinnert.4 Hier versucht der aus dem Krieg zurückgekehrte Vater wieder Kontakt zu seiner Tochter herzustellen, indem er ihr naive deutsche Volkslieder vorsingt, während die anderen Kinder vor vorbeifliegenden Flugzeugen in Deckung gehen und so den Bombenkrieg nachspielen. Hier bringt Marianne ihre prüden Eltern dazu, mit dem attraktiven amerikanischen Soldaten Mr. Freedom und seiner deutschen Freundin Ball zu spielen: eine Szene der Versöhnung der Deutschen mit den amerikanischen Besatzern, die jedoch vom Auftritt des örtlichen Priesters in einer schwarzen, an die SS erinnernden Lederjacke umgehend gestört wird.
Während die Landschaft in den Alltagsszenen die Bilder der kulturellen und historischen Vergangenheit mit Anliegen der Gegenwart verbindet, wird sie in den bunten Traumszenen zum Schauplatz der kindlichen Ängste und Hoffnungen für die Zukunft. Die Furcht vor dem Kalten Krieg zeigt sich im Aufeinandertreffen des russischen Soldaten Ivan und des amerikanischen Soldaten Mr. Peppermint. Die als Jungfrau Maria verkleidete Marianne wirft Messer auf ein Radio, das die Zündung einer Atombombe ankündigt. Und der jüdische Dr. Klug kehrt mit verbundenen Händen und Gesicht in der sommerlichen Seelandschaft wieder, die – bei Tage – von seiner Abwesenheit gezeichnet ist. Die romantische Idylle wird im Traum zu einem Ort, an dem die Konflikte der Geschichte ausgetragen werden, in der sich die Trauer und seine Hoffnung auf eine Versöhnung zeigt. In der Psyche des Kindes ist die Landschaft von den Bildern der Abwesenden geprägt, den ‚Anderen‘, den Toden und Unbekannten.
Fragen
Indem Marianne in ihrem Spiel und ihren Träumen verschiedene Facetten der Geschichte, Kultur und Gesellschaft freilegt, stellt sie die Lügen und ‘falsche’ Logik der Erwachsenenwelt in Frage. Sie bildet sich ihren eigenen ‘Sinn’ aus dem widersprüchlichen Geflecht von Bildern, Geschichten, Wahrnehmungen und Erklärungen, die sie erfährt. Dies wird in ihren ‘unmöglichen’ Fragen und Kombinationen von kulturellen Motiven deutlich. In einer Reihe von Märchenmotiven wird beispielsweise Dr. Klug, der sie zu Kriegszeiten ärztlich versorgte, mit Mr. Freedom in Beziehung gesetzt, den die Kinder „Mr. Frieden“5 nennen, weil er für sie Frieden und Lebensfreude verkörpert. Als Marianne zu Kriegszeiten das Märchen Der Hase und der Igel in einem NS-Kino sieht, ruft sie laut den Namen von Dr. Klug, der ihr einst eine Hasenmaske schenkte. Nach dem Krieg träumt sie von Mr. Freedom, der flink wie ein Hase vor dem amerikanischen Militär flieht. Wie Susan Linville in ihrer Analyse zu Märchenmotiven in Filmen nachwies, erzählt dieses bei den Nationalsozialisten beliebte Grimmmärchen vom Sieg der gewöhnlichen Menschen, die alle gleich aussehen (der Igel), über das sozial konstruierte ‚Andere‘ (den Hasen). Demzufolge benutzt Marianne das Märchen, um zu trauern und die Ermordung von Dr. Klug und das Verschwinden von Mr. Freedom (der für einen anderen Krieg abgezogen wurde) zu ‚verstehen’. In einer späteren Traumszene ist in einem expressionistischen Set zu sehen, wie Mr. Freedom von dem katholischen Priester in einem Ofen verbrannt, und so das Märchen Hänsel und Gretel mit Theresienstadt als Backsteinfabrik in Verbindung gesetzt wird.6
Diese ‚unmöglichen’ Verbindungen lassen sich zunächst auf psychologischer Ebene deuten: die kindliche Hauptfigur verarbeitet so offenbar die traumatischen Verluste zweier geliebter Menschen, die beide plötzlich unerklärlich verschwinden. Die bildlichen ‚Montagen’ scheinen dem zu entsprechen, was der Entwicklungspsychologe Jean Piaget als die Logik der deformierenden Nachahmung und Kombination bezeichnet hat, mit dem Kinder im Spiel Erlebtes wiederholen und verarbeiten.7
Auf filmischer Ebene könnten sie aber auch als scharfsinniger Kommentar auf die Nachkriegsgesellschaft verstanden werden: Denn sie verweisen auf die Kontinuität patriarchaler, autoritärer Gewalt in einem von der katholischen Kirche dominierten bayrischen Dorf, in dem illegitime Liebesbeziehung zwischen einem amerikanischen Soldaten und einer deutschen Frau verdammt, der Holocaust aber verschwiegen wird.
Wie Linville zeigt, reflektierten weibliche Regisseurinnen des Neuen deutschen Kinos in ihren Filmen kritisch die Funktion von Märchen in den Sozialisierungsprozessen patriarchaler Gesellschaften (insbesondere der Märchen der Gebrüder Grimm als Vermittlung der nationalsozialistischen Ideologie an junge Kinder).8 Auch PEPPERMINT FRIEDEN etabliert also nicht – wie andere Kriegsfilme – eine scheinbar zeitlose Märchenerzählung, die lediglich die Weltsicht des Kindes widerspiegelt und einen symbolischen Zugang zu traumatischen Ereignissen ermöglicht.9 Viel radikaler, zeigt PEPPERMINT FRIEDEN wie Märchen und religiöse Mythen, die Kindern Angst einjagen, selbst als Instrumente benutzt werden, um Menschen zum Schweigen zu bringen und ihnen soziale Regeln aufzuerlegen. Zugleich zeigt der Film, wie ein Kind die Märchen auf eine andere, subversivere Art und Weise verstehen und dafür nutzen kann, sich einen eigenen Reim auf das Erlebte zu machen und seinen Hoffnungen Ausdruck zu verleihen.
Wie die kurze Analyse zeigte, ist die narrative und ästhetische Form von PEPPERMINT FRIEDEN von der Vorstellungskraft der kindlichen Hauptfigur geprägt, die Fragmente der Realität und kultureller Überlieferungen aufgreift, verändert und neu kombiniert. Auf diese Weise thematisiert der Film die psychische Wirkung historischer Traumata auf das Kind und deren Verdrängung in der Nachkriegsgesellschaft, und er artikuliert das Ringen um weibliche Identität in einer Welt, in der potentielle Vaterfiguren entweder tot, verschwunden, schwach oder autoritär sind. Die Perspektive des Kindes dient aber auch als subversive Strategie, um kritisch über eine Gesellschaft nachzudenken, in der das Vergangene verdrängt wird und die auf den Ausbruch eines erneuten Krieges zusteuert. Das Kind fungiert hier als eine ‚Vermittlerin zwischen den Zuschauer*innen und der bizarren Erwachsenenwelt der damaligen Zeit’.10
Die letzte Einstellung zeigt ein Standbild von Marianne, die ihren Eltern am anderen Ende eines langen Tisches gegenübersitzt und nicht aufhört Fragen zu stellen: Ihr Blick in die Kamera scheint die Zuschauer*innen herauszufordern, sich gemeinsam den Prozessen der Ausgrenzung, der Verdrängung und der erneuten Kriegstreiberei entgegenzusetzen. Darüber hinaus verweist dieser Blick des Kindes auch auf die Filmemacherin, die versucht, sich mit den Fragen und Vorstellungen des Kindes, das sie einmal war, der Geschichte und Gegenwart zu stellen. Das Kind ist eine Figur der Selbstreflexion. Nicht nur im Rahmen des besprochenen Films, sondern auch im Rahmen des Neuen deutschen Kinos der 1970er und 1980er Jahre ist Marianne (Rosenbaum) eine der wenigen, die nach Dr. Klug fragen und über die Verbrechen des Holocaust trauern.
24.02.2018
Übersetzung von Hannah Burkhardt
Zitiervorschlag: Bettina Henzler: Fragen, spielen und träumen: Das Kind als Mittlerin der
Geschichte in Peppermint Frieden. In: Dies. (Hg.): Filmästhetik und Kindheit. Onlinedokumentation zum gleichnamigen Forschungsprojekt, www.filmundkindheit.de, veröffentlicht am 18.01.2018.
Filme / Literatur
Die Blechtrommel, R: Volker Schlöndorff, Deutschland/Frankreich 1979
Deutschland, bleiche Mutter, R: Helma Sanders-Brahms, BRD 1980
Heimat – Eine deutsche Chronik, R: Edgar Reitz, BRD 1984
Peppermint Frieden, R: Marianne Rosenbaum, BRD 1983
Susan E. Linville, ‘Fairy Tales and Reflexivity in Marianne Rosenbaum’s Peppermint Peace’, in Ingeborg Majer O’Sickey and Ingeborg von Zadow (eds), Triangulated Visions: Women in Recent German Cinema (New York: State University of New York Press, 1998)
Susan E. Linville, ‘Kinder, Kirche, Kino: The Optical Politics of Marianne Rosenbaum's Peppermint Peace’ in Feminism, Film, Fascism: Women’s Autobiographical Film in Postwar Germany (Austin: University of Texas Press, 1998)
Karen Lury, The Child in Film: Tears, Fears, Fairytales, London 2010
Jean Piaget, Nachahmung, Spiel und Traum, Stuttgart 2009
Gabriele Weinberger, ‘Marianne Rosenbaum and the Aesthetics of Angst’, in Sandra Frieden, Richard McCormick, Vibeke Petersen and Laurie Melissa Vogelsang (eds.), German Film History / German History on Film: Gender and German Cinema. Vol 2: Feminist Interventions (Oxford: Berg, 1993)
Anmerkungen
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1
Karen Lury: The Child in Film: Tears, Fears, Fairytales, London 2010, S. 110f.
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2
Susan E. Linville, ‘Fairy Tales and Reflexivity in Marianne Rosenbaum’s Peppermint Peace’, in Ingeborg Majer O’Sickey and Ingeborg von Zadow (eds), Triangulated Visions: Women in Recent German Cinema (New York: State University of New York Press, 1998), S. 241–49.
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3
Siehe dazu beispielsweise die Spieltheorie von Jean Piaget in Nachahmung, Spiel und Traum, Stuttgart 2009 (6. Auflage).
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4
Weinberger verweist auf die Tradition der Romantik, die in diesen Einstellungen sichtbar wird. Die Szene zeigt den Rücken des Kindes, das Mr. Fredom und dessen Freundin beim Küssen an der Küste beobachtet und erinnert im Bildaufbau an die unverwechselbare Landschaft in Caspar David Friedrichs Der Wanderer über dem Nebelmeer. Gabriele Weinberger, ‘Marianne Rosenbaum and the Aesthetics of Angst’, in Sandra Frieden, Richard McCormick, Vibeke Petersen and Laurie Melissa Vogelsang (eds.), German Film History / German History on Film: Gender and German Cinema. Vol 2: Feminist Interventions (Oxford: Berg, 1993), pp. 227–40.
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5
Da die Kinder das englische Wort „freedom“ (Freiheit) falsch aussprechen (und missverstehen), nennen sie ihn “Frieden”.
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6
Linville, S. 243f.
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7
Piaget, S. 160-183.
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8
Linville, S. 241.
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9
Vgl. Lury, S. 111.
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10
Susan E. Linville, ‘Kinder, Kirche, Kino: The Optical Politics of Marianne Rosenbaum's Peppermint Peace’ in Feminism, Film, Fascism: Women’s Autobiographical Film in Postwar Germany (Austin: University of Texas Press, 1998), S. 21-40.